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Rabbiners' Gedanke zur wöchentlichen Parascha

Luach 5785

Tröstet tröstet mein Volk, spricht euer Gott.

 

redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu, daß vollendet ist ihr Scharwerk, daß abgegnadet ist ihre Schuld, daß gedoppelt von SEINER Hand sie empfängt für all ihre Sündenbußen.

(Jesaja 40,1–26)

 

Nach den Tagen, in denen wir um die Zerstörung des Tempels und um das Exil getrauert haben, tritt der Prophet an uns heran und spricht Worte des Trostes – und dies in doppelter Form: „Tröstet, tröstet mein Volk“.

Anschließend erklärt er, dass Gott eingesteht, uns doppelt bestraft zu haben – und dass dies zu viel war.

 

Die Weisen lehrten, dass die doppelte Strafe kein Unrecht darstellt, sondern ein Ausdruck der tiefgehenden Läuterung ist – Jerusalem hat bereits „mehr als genug“ erlitten, und nun „bereut“ der Ewige im Sinne einer veränderten Haltung und will trösten.

 

Es gibt Momente, in denen Menschen oder ganze Gemeinschaften Schwierigkeiten durchleben, die unverhältnismäßig erscheinen. Selbst in einer Zeit von Menschenrechten, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung wissen wir, dass menschliche Systeme irren können – indem sie zu hart bestrafen, zu streng urteilen oder die menschliche Dimension vergessen. Hier tritt der Wert des Mitgefühls hervor: die Fähigkeit zu erkennen, dass der Mensch uns gegenüber bereits genug gebrochen ist, und dass jetzt Sanftmut und Wiederaufbau nötig sind.

 

Gott zeigt uns in der Haftara ein Modell der Führung – das Eingeständnis eines Fehlers, die Kursänderung und das Geben von Hoffnung. Auch in Organisationen, im Bildungswesen und selbst in der Familie sollten wir nicht nur Grenzen setzen, sondern auch loslassen, erleichtern und sagen: „Von jetzt an bauen wir neu auf.“

Wir sind Zeugen von Situationen, in denen Menschen, Gruppen oder gar Völker über das angemessene Maß hinaus bestraft werden. Ereignisse der letzten Monate – Geflüchtete, die sich monatelang unnötig in Haft wiederfanden, Bürger, die unverhältnismäßige Geldstrafen erhielten, oder eine öffentliche Debatte, die „das Urteil fällt“, bevor Sachverhalte geklärt sind – erinnern uns an die Gefahr des Mangels an Mitgefühl.

In der Parascha Wa’etchanan begegnen wir zwei Grundpfeilern der jüdischen Identität: den Zehn Geboten – dem grundlegenden moralischen und rechtlichen Kodex – und Schma Yisrael – dem Bekenntnis des Glaubens und der Verpflichtung gegenüber Gott.

 

Die Verbindung zwischen beiden ist offensichtlich: Die Zehn Gebote verkörpern das Prinzip der Gerechtigkeit – einen Rahmen aus Grenzen und Gesetzen, der für das gesellschaftliche Leben unabdingbar ist. Schma Yisrael hingegen verkörpert das Prinzip der Liebe und der Verbundenheit – „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben“ – eine emotionale und spirituelle Verbindung, die uns motiviert, die Gebote nicht nur aus Furcht, sondern aus Liebe zu bewahren.

 

Sowohl in der Haftara als auch in der Parascha lernen wir: Gerechtigkeit allein genügt nicht, und Liebe allein kann haltlos sein. Erst die Verbindung von Recht und Mitgefühl, von Gesetz und Herz, schafft eine gesunde Gesellschaft. Dies ist die große Botschaft des Trostes – nachdem das Gesetz vollständig, ja sogar übermäßig, angewandt wurde, kommt die Liebe und heilt den Bruch.

 

In unserer Zeit, in der es einerseits Stimmen gibt, die nach einem „Gesetz ohne Kompromisse“ rufen, und andererseits Stimmen, die „nur Mitgefühl“ bevorzugen – ertönt der Ruf, beides zu vereinen. So wie Gott die Zehn Gebote verkündet, aber auch sagt: „Tröstet, tröstet mein Volk“, und so wie im Schma Yisrael sowohl Liebe als auch praktische Gebote erscheinen – so sind auch wir gefordert, unser Leben zwischen Recht und Barmherzigkeit, zwischen Gesetz und Herz zu gestalten

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